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Journal B, September 2014


Tauben jagen in der Reitschule

 

Von Bernhard Giger


So offen und unaufgeregt wie in Andreas Bergers Film «Welcome to Hell» war die Reitschule noch kaum zu sehen. Der Filmemacher fokussiert auf den Alltag dieser Berner Institution und das Selbstverständnis ihrer Betreiber.


Selbstverständlich gibt es im «Sous le Pont» Pommes frites. Selbstverständlich? Das gibt es, abgesehen von ein paar eisernen politischen Verhaltensregeln, in der Reitschule nicht. Der Einführung der Pommes auf dem Menuplan gingen 2006 Grundsatzdiskussionen voraus. Zu reden gab unter anderem, dass die Pommes nicht selber hergestellt, sondern frittierfertig angeliefert werden. Zum ersten Mal angeboten wurden sie dann während der Fussball-WM. Dass diese in der Reitschule zelebriert wurde, auch das war damals eine Premiere. Geschichten wie diese erzählt «Welcome to Hell». Keiner kann in Bern solche Geschichten erzählen wie Andreas Berger. Seit bald 30 Jahren ist der 1961 geborene Filmemacher dabei und hält die Kamera hin, wenn Bern bebt und brennt, wörtlich und bildlich. «Zafferlot» war 1986 der erste Film des damaligen «Bund»-Film- und Medienkritikers, «Berner Beben», eine Tränengasoper, wie er selber sagte, zeichnete 1990 wild und wütig die Geschichte der ersten zehn Jahre Bewegung auf.

Filme über das trotzige Hierbleiben

Berichte aus dem Innern der alternativen Szene waren auch die weiteren Filme, Porträtfilme, Stimmungsfilme über das trotzige Hierbleiben und Widerstand leisten («Ruhe und Unordnung», 1993), über den Alltag von sechs Autonomen und einem Polizisten («Zaffaraya 3.0», 2011), über das Anti-AKW-Camp vor dem BKW-Hauptsitz am Viktoriaplatz («77 Tage sind nicht genug», 2011).
Andreas Berger ist der Chronist der Berner Bewegung geworden. Viele der von ihm im Lauf der Jahre gedrehten Kurzfilme über die laufenden Ereignisse dienten auch der Szene selber als Beweis- und Archivmaterial, gut zehn von ihm aufgenommene Clips sind – nicht unter seinem Namen – auf Youtube zu finden: Embedded Journalism, auf der anderen Seite.

Alltag, auf die eine und die andere Art

Andreas Berger war nie nur Beobachter, er war immer selber Aktivist. Es gibt in seinen Filmen nicht den geringsten Zweifel, auf welcher Seite er steht, von welcher Seite aus er filmt. «Welcome to Hell» habe er für die Reitschule gemacht, sagt er, «und für mich». Er brauche die Kamera, «um den Wahnsinn der Welt in Schach zu halten».
In «Welcome to Hell» – der Titel bezieht sich auf den Willkommensgruss an die SVP 2007 bei ihrem Marsch durch Bern – spricht eine Reitschule-Aktivistin davon, wie sie ihre politischen Ideen in einem Filmzyklus umsetzen kann. Auch sie braucht das, um den Wahnsinn in Schach halten zu können. Das ist die gemeinsame Ebene, auf der sich Filmemacher und Reitschule-Betreiberinnen und -Betreiber treffen: Sie reden vom gleichen, und sie wissen beide, wovon sie reden.
Sogar die legendäre Vollversammlung hat nun minutenlang Eingang gefunden in den Schweizer Film. So nahe und unaufgeregt selbst in kritischen Situationen, so authentisch und kompetent wurde filmisch wohl noch nie Einblick gewährt in den Betrieb der Reitschule. Ein Aussenstehender hätte diesen Zugang kaum gefunden. Sogar die legendäre Vollversammlung – «ohne Basisdemokratie gäbe es die Reitschule gar nicht», sagt im Film eine Aktivistin der vielleicht dritten Generation, «sie ist das Herzstück» – sogar die VV hat nun minutenlang Eingang gefunden in den Schweizer Film.
Es ist nicht spektakulär, was der Film beschreibt: dass 650 Schlüssel für 92 Türen im Umlauf sind, oder mit wie viel Leidenschaft und Liebe im Kino die Bilder zum Laufen gebracht werden. Wie es in der Küche läuft, wie das «Megafon» gedruckt und der Drucker Vater wird, wie die Tauben zur Plage wurden und man nicht recht wusste, ob sie nun vergiftet, abgeschossen oder mit Stacheln vertrieben werden sollen.
Aber es ist genau das, was der Reitschule gern abgesprochen wird: Alltag, Arbeitsalltag und Lebensinhalt von rund 500 Personen, Normalität bis zu einem gewissen Punkt. Wie labil diese jedoch ist, zeigen die Passagen von Demonstrationen und Strassenkämpfen, die der Filmemacher auch diesmal in seine grosse Chronik des anderen Berns einbringt. Unschöne Szenen zum Teil, doch auch gesuchte Provokation. Welche Scheibe in welchem Moment die richtige sei, das könne manchmal durchaus die richtige Frage sein, wird im Film gesagt. Auch dies, aktiver politischer Widerstand, ist eben Teil des Alltags.

Langweilige Rhetorik, tägliche Realität

Zur Normalität gehört schon lange, dass die Reitschule städtischer Unruheherd ist. «Der Stadtrat wäre einiges ärmer, wenn es die Reitschule nicht mehr gäbe», sagt im Film die in diesem Frühling zurückgetretene JA-Stadträtin Lea Bill. Doch auch wenn Berger die Gefechte der Rechtsbürgerlichen im Stadtrat als kleine Comedy-Nummer montiert, spannender werden sie dadurch nicht. Sie langweilt, diese Putzt-sie-weg-Rhetorik, weil sie offensichtlich neben der Realität vorbeischiesst. Denn dass Stadt und Stadtparlament die Reitschule mehr bedrängen und beschäftigen, als das die Betreiberinnen und Betreiber gegenüber der Öffentlichkeit manchmal eingestehen wollen, zeigt der Film in den Reaktionen auf die Verzögerung bei der Vertragserneuerung mit der Stadt. Da ist die innere Unruhe zu spüren über den vertragslosen Zustand, auf die Dauer schade das dem Betrieb, mahnt jemand. Auf das kleine Stück Verbindlichkeit will man schon setzen können.
In die Realität der unmittelbaren Umgebung der Reitschule führt der Film in einer bedrückenden, nächtlichen Sequenz, in der er eine junge Aktivistin auf ihrem Kontrollgang begleitet. Solche Rundgänge gehören zu ihrem Job. Elend und Gewalt, Dealer und Polizei, Berner Nachtleben, das die meisten, die davon reden, nur vom Hörensagen kennen. Die atmosphärisch dichten Nachtbilder lenken den Blick – unsentimental, aber mit dem sicheren Auge für die soziale Sprengkraft wie die Filme des britischen Free Cinema – auf den eigentlichen Unruheherd der Schützenmatte.
Mit dem Kulturzentrum Reitschule im engeren Sinn hat das, was sich dort abspielt, wenig zu tun, mit dessen Funktion im sozialen Netz des städtischen Lebens sehr viel. Wie dringend nötig eine Neukonzeption für diesen städtischen Raum ist: Die paar Minuten Film zeigen es eindringlich.

Einfach nicht alles klären

Die Zeiten haben sich geändert. Das Bern um die Reitschule herum, das von den Betreiberinnen und Betreibern oft etwas forciert als Feindesland empfundene Rest-Bern, ist nicht mehr die gespaltene Stadt der 80er- und 90er-Jahre. Bern bebt nicht mehr. In den 80er-Jahren hat die Polizei Stacheldraht um die Reitschule gespannt, heute gibt sie in einem Film über die Reitschule breitwillig Auskunft. Selbst die charmant erzählte Geschichte von Kuno Lauener über die Eroberung der Reitschule beim Kulturstreik 1987 klingt im Rückblick fast ein wenig versöhnlich.
Wie sich die Reitschule entwickeln, wie sie sich behaupten wird, sozial, politisch, wie sie sich als Kulturzentrum positionieren wird, innerhalb der Kulturszene, aber auch vor dem Hintergrund anderer Nutzergewohnheiten - «es gibt eine Wochenreitschule und eine Wochenendreitschule», sagt Andreas Berger –, davon handelt der Film nur ansatzweise. Das ist auch nicht sein Anspruch, «Welcome to Hell» ist ein Film zu 25 Jahre Reitschule.

Den gemeinsamen Nenner suchen

Und doch steht am Schluss die Zukunftsfrage im Raum. Es ist davon die Rede, dass man das Publikum dafür sensibilisieren müsse, «was die Reitschule überhaupt ist», und dass man wieder verstärkt nach einem gemeinsamen Nenner suchen wolle. Was man halt so sagt, wenn man nicht recht weiter weiss.
Und dann fällt ein Satz, der hängen bleibt. Eine Aktivistin und Theaterschaffende sagt ihn, eine Frau, die ein paar Jahre in der Reitschule daheim war, und sich am Schluss des Films verabschiedet, weil sie von Bern wegzieht: «Wenn alles klar ist, wenn die Reitschule klar definiert werden kann, ist sie verloren.» Schwarze Schafe, das zeichnet sie aus und macht den Umgang mit ihnen gelegentlich kompliziert, reihen sich schlecht ein.


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Sonntagszeitung, 28. September 2014


Die Hölle, versüsst

 

Von Matthias Lerf über einen Regisseur, der Chaoten filmt und Beeren sammelt


Die Einladung in die Hölle kam mit ein paar Gläsern Konfitüre. Heidelbeeren, Pflümli, Himbeeren/ Meertrübeli. «Brombeeren werden nachgeliefert», schrieb Ändu Berger dazu, der die Gläschen persönlich im Milchkasten deponiert hatte. Dabei lag eine Einladung zur Vorpremiere seines neuen Films «Welcome to Hell». Damit ist die Berner Reitschule gemeint – und da ging ich eines Sonntagabends hin.


Andreas Berger filmt in der Reitschule seit ihrer Eröffnung vor 25 Jahren. Kein Konzert, keine Auseinandersetzung, keine Demo auf den Strassen Berns, von der er nicht ein paar Bilder hat. Die Reitschule ist sein Paradies (oft), seine Hölle (manchmal): «Welcome to Hell» stand eine Weile lang auf dem Dach des Kulturzentrums, das mancher bürgerliche Politiker immer noch am liebsten flachlegen würde. Ändu hat schon einige Filme über das bewegte Bern gedreht, dieser hier komme seinen Vorstellungen am nächsten, sagte er an der Premiere. Und er hat recht, es ist sein bester: ausufernd, aber doch pointiert. Schwelgerisch, aber doch nachdenklich. Politisch, aber doch witzig.
Gut, mit ein paar Gläsern süsser Konfi findet jeder Kritiker den Film gut, könnte man jetzt meinen. Aber nein, das haben wir beide nicht nötig. Wir kennen uns seit Jahren, ich kann gar nicht aufzählen, was uns alles verbindet. Ganz früher durfte ich ab und zu eine Nebenrolle in seinen wilden Super-8-Filmen spielen (einmal war ich ein Velomechaniker). Regelmässig schreibt er auf dieser Seite Filmkritiken (Kürzel abb), gerne auch über Zombiefilme, Schlägerstreifen und Sylvester Stallone. Gelegentlich jassen wir zusammen, ab und zu... die Konfitüren zeigen eine Seite von ihm, die weniger bekannt ist.
Wenn er nicht Bewegte filmt, durchstreift Ändu nämlich die Wälder um Bern, sammelt Pilze und Beeren, verarbeitet sie. Und das bringt mich auf einen anderen Gedanken. «Was jetzt?», frage ich ihn manchmal (und er sich auch), irgendwann ist die Reitschule ausgefilmt. Darum der Rat eines Freundes: Lieber Ändu, filme mal den Wald. Und sollten darin noch ein paar zähnefletschende Zombies auftauchen, ist das auch gut.
«Welcome to Hell» läuft in den Berner Kinos Kunstmuseum und Reitschule. Und hoffentlich bald auch in weiteren Schweizer Städten.


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Der Bund, 20. September 2014


Erfüllung zwischen Hölle und Paradies


Von Fred Zaugg


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Berner Zeitung, 23. September 2014


«Für mich ist sie teils die Hölle, teils das Paradies»

 

Von Dominik Galliger/Hans Jörg Zinsli

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WOZ, 25. September 2014


«Wenn die Polizei schiesst, schiesse ich auch»

 

Von Susanne Ruckstuhl


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Der Bund, 18. September 2014


«Es gibt keine homogene Reitschule»

 

Von Berhard Ott


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20 Minuten, 26. August 2014


«Welcome to Hell» gibt Einblick in die Reitschule


Der Berner Dokumentarfilmer Andreas Berger hat die Reitschule während 25 Jahren mit der Kamera begleitet. Im September kommt sein Film über «den Schandfleck von Bern» ins Kino.


Der Filmer und seine Kamera waren stets dabei: Bei Gummischrotregen vor der Reithalle, bei Konzerten im Dachstock und an den basisdemokratischen Sitzungen der Vollversammlung. In seinem neuesten Film «Welcome to Hell» lässt Andreas Berger die Zuschauer in die Kultur der Berner Reitschule eintauchen. Dafür begleitete er neun Aktivisten bei ihrer täglichen Arbeit im alternativen Kulturzentrum. «Es soll kein Jubelfilm werden», meint Berger. So kommen auch Kritiker der Institution wie SVP-Fraktionschef Roland Jakob und Manuel Willy, Chef der Regionalpolizei Bern, zu Wort.

Als Zuschauer begleitet man Sabine Ruch bei ihrer Arbeit im Dachstock und ist dabei, wenn basisdemokratisch das Kino der Reitschule geputzt wird, aber auch, als Reitschülerin Lea Bill sich auf einer Podiumsdiskussion über das «Tanz dich Frei» mit Sicherheitsdirektor Reto Nause zofft. «Ich habe probiert, ein differenziertes Bild des sogenannten Schandfleckes von Bern zu zeigen», so der Filmemacher, der bereits Filme über das Zelt- und Wagendorf Zaffaraya und die Berner Anti-AKW-Bewegung drehte. Auch zahlreiche Künstler wie Kuno Lauener, Müslüm und Steff la Cheffe erzählen auf der Leinwand über ihre Erfahrungen in der Berner Kulturinstitution.

Wunsch nach SVP-Initiative

«Welcome to Hell» – dieser Schriftzug prangte lange Zeit als Graffito auf dem Dach der Reitschule und ist für Berger der perfekte Filmtitel: «Ich habe neben den schönen Stunden die Reitschule auch als Hölle erlebt», erzählt der Filmemacher. Damit meint er zugedröhnte Jugendliche auf dem Vorplatz, schlechte Stimmung in der Beiz oder Prügeleien ohne ersichtlichen Grund. Dann habe er sich immer wieder mal eine Initiative der SVP gegen die Reithalle gewünscht: «Die brachten jedes Mal wieder einen Kreativitätsschub in die Reithalle». Trotz der vielen Stunden, die Berger in der Reitschule verbracht hat, ist der Ort für ihn noch immer unberechenbar: «Die Reithalle ist noch immer wie eine Wundertüte für mich.»

Entstanden ist der Film auch dank Förderbeiträgen. Der Kanton Bern zahlte 65'000 Franken, ebenso gaben der Kanton Solothurn und die Ernst-Göhner-Stiftung Geld für die Entstehung des Dokumentarfilmes. Zu sehen gibt es den Streifen ab 25. September im Kino der Reitschule, danach auch im Kino Kunstmuseum.


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Tages Woche, 25. Mai 2012


Die Streitschule von Bern


von Christoph Lenz


Die Berner Reitschule ist 25 Jahre alt. Eben hat ihr die Politik das schönste Geschenk gemacht, das sich ein AJZ wünschen kann: Zwangsauflagen. Damit ist die schwierige Diskussion über den Sinn der Reitschule im 21. Jahrhundert einmal mehr vertagt.


Andreas Berger stand in jener milden Mainacht vor der UBS-Filiale unweit des Bundesplatzes und konnte es kaum fassen. Gegen 3000 junge Demonstranten zogen an ihm vorüber mit Soundmobilen, Transparenten und Leuchtfackeln – aber es flog kein einziger Farbbeutel gegen die Grossbank.

«Das wäre 1987 unvorstellbar gewesen», sagt Berger. Als Filmemacher untersucht er seit bald dreissig Jahren das alternative und jugendbewegte Bern. Seit Anfang Mai muss Berger Überstunden schieben.

Der Konflikt um die Reitschule ist in Bern voll entbrannt – einmal mehr. Schuld trägt diesmal der übereifrige Regierungsstatthalter und Sozialdemokrat Christoph Lerch. Vor drei Wochen erliess er eine Reihe von Zwangsmassnahmen zur Reitschule. Unter anderem müssen die Aktivisten den beliebten Vorplatz um 0.30 Uhr räumen und Gäste wegweisen, die sich nach Polizeistunde noch draussen aufhalten. «Wir wollen die Lärm- und Gewaltprobleme in den Griff bekommen», erklärte Lerch.

Hehrer Wunsch

Ein hehrer Wunsch, passiert ist aber das Gegenteil. Innert Tagen hat sich eine breite Protestbewegung gebildet. Neben der Nachtdemo gab es unbewilligte Freiluft-Konzerte bis in die Morgenstunden, ein Grossfeuerwerk nach Mitternacht mit Freibier-Ausschank und Kundgebungen auf dem Vorplatz. Die Innenstadt ist gesäumt von Klebern und Plakaten. «Nehmt ihr uns den Vorplatz, nehmen wir uns die Stadt», steht auf den einen. Andere sind weniger prosaisch: «Figg di Herr Lerch!»

Manche munkeln schon, Bern stehe ein heisser Sommer bevor – und kichern wie Schulmädchen vor der Turnstunde mit dem süssen Jungen aus der Parallelklasse. Denn wenn die Jugendlichen vom Sommer 2012 sprechen, meinen sie eigentlich den Herbst 1987. Der ist längst zum lokalen Erinnerungsort geworden. Und wie immer bedauern sich die Zu-spät-Geborenen dafür, ihn verpasst zu haben. Nun keimt die Hoffnung, auch sie könnten sich noch verewigen in der Stadtchronik. Entscheiden wird es sich in den nächsten Wochen.

Erinnerungsort Zaffaraya

Was 1987 geschah? Die Polizei räumte das von Aussteigern und Alternativen gegründete Hüttendorf Zaffaraya. Das unzimperliche Vorgehen der Sicherheitskräfte löste eine für Berner Verhältnisse beispiellose Protestwelle aus. Schüler streikten, Kulturschaffende begehrten auf, Bürger errichteten Barrikaden in der Innenstadt. Und Woche für Woche gingen Tausende auf die Strasse, bis die Stadtregierung einlenkte und den Jugendlichen verschämt die Schlüssel zur Reitschule aushändigte.

Tom Locher zum Beispiel weiss noch genau, wo er sich befand an jenem 17. November 1987: in einem Büro des Betreibungsamtes, wo er als Siebzehnjähriger eine Lehre absolvierte. Von der Zaffaraya-Räumung erfuhr er durchs Radio. «Ich habe das damals instinktiv daneben gefunden», sagt Locher bei einem Espresso in der Reitschule. Was es bei ihm ausgelöst hat? «Ich bin aufmerksam geworden.» Wenige Monate später schloss sich Locher den Aktivisten an. Heute engagiert er sich in der Mediengruppe und ist beinahe täglich in der Reitschule anzutreffen.

«Scharfe Hunde»

Die Parallelen zu 1987 sieht auch Filmemacher Andreas Berger, der jenen Protesten mit «Berner Beben» ein Denkmal gesetzt hat. Auch damals sei es um Freiräume gegangen, auch damals sei der Unmut gross gewesen, sagt er. «Doch 1987 gab es scharfe Hunde bei der Polizei und bei den Behörden, die Fronten waren total verhärtet.» Das sei heute anders. Einerseits sei die Stadtregierung gesprächsbereit. Andererseits, die Leute an der Nachtdemo seien «hauptsächlich Partypeople», sagt Berger. Es klingt ein bisschen abschätzig. Als würden sie den Ruf der Reitschule beschädigen.

Seit bald 25 Jahren bildet sie den primären Kristallisationspunkt lokaler Gesinnungsprüfungen. Da sind die bürgerlichen Politiker mit ihrer Dauer­empörung über den «rechtsfreien Raum» und den «Schandfleck» an der Einfallsachse in die Stadt. In schöner Regelmässigkeit fordern sie die Schlies­sung oder den Abriss des Gebäudes, um Platz zu schaffen für – wahlweise – eine Shopping-Mall, ein Schwimmbad oder ein Parkhaus. Fünfmal haben diese Kämpfer für Recht, Ordnung und Sitte in den letzten zwanzig Jahren Volksinitiativen gegen die Reitschule eingereicht. Fünfmal hat das links-grüne Bern abgelehnt, zuletzt 2010 mit donnernden 68 Prozent.

Eine schützende Hand

Kein Wunder, wächst die Verzweiflung im bürgerlichen Lager. Als 100 Autonome im Herbst gegen den Kapitalismus demonstrierten, stellte sich ihnen ein breitbeiniger Rocker in den Weg. Jimy Hofer, Anführer der Berner Motorradgang Broncos, forderte die Vermummten auf, abzuhauen aus seiner Stadt. Sinngemäss: Sonst gehe hier gleich ein Donnerwetter los. Die Demonstranten griffen zum Pfefferspray und brachten den Hünen zu Fall, worauf Hofer Trost suchte bei den lokalen Medien, die den zwielichtigen Herrn eilfertig zum Winkelried erklärten.

Ebenso traditionell hält die rot-grüne Mehrheit der Stadtregierung ihre schützende Hand über das Kulturzentrum. Dass Chaoten nach gewalttätigen Demos immer wieder Unterschlupf in der Reitschule finden, dass nirgendwo mehr Drogen umgeschlagen werden als auf dem Vorplatz, dass alle paar Wochen Polizeifahrzeuge mit Steinen und Flaschen angegriffen werden – geschenkt. Gelobt wird stattdessen der Kulturbetrieb: Die Betriebe seien hochprofessionell geführt, würden Dutzende Arbeitsplätze bieten und mehrere Millionen Franken jährlich umsetzen. Tatsächlich zählten Dachstock, Kino, Theater, Frauenraum und die Rössli-Bar allein im vergangenen Jahr rund 110'000 Besucher.

Kehrseiten der Professionalisierung

Wenngleich die Verbeamtung der Reitschule nicht so weit fortgeschritten ist wie etwa bei der Roten Fabrik in ­Zürich: Die Professionalisierung hat durchaus Kehrseiten, die das Zentrum zumindest teilweise infrage stellen. Wenn etwa die jungen Anarchisten Konzerte gegen einen G-8-Gipfel veranstalten wollen, müssen sie damit wortwörtlich unter die Bahnbrücke ausweichen, weil im Dachstock schon irgendein zweitklassiger DJ gebucht wurde. Der Kulturbetrieb frisst just jene Freiräume auf, die das Jugendzentrum zu schützen vorgibt.

Es ist nur ein Beispiel dafür, dass es sich viele Reitschüler in ihrer antikapitalistischen, antifaschistischen, antisexistischen Zone gerade so gemütlich eingerichtet haben wie die pantoffeltragenden, konsumwilligen Systemstützen, die sie so gerne beschimpfen. 1987 war das, da sind sich viele Aktivisten sicher, noch ganz anders.

Selbstverwaltet statt autonom

Die Unterschiede zu früher? Tom Locher hat diesen Satz schon mehrmals diktiert. «Früher war die Reitschule autonom und selbstbestimmt. Heute sind wir basisdemokratisch und selbstverwaltet.» Haben sich also nur die Begriffe geändert? Locher hat noch ein Beispiel: «Früher waren alle Türen prinzipiell offen. Immer. Auch die zum Alkohollager. Heute gibt es ein kompliziertes Schlüsselsystem.»

Also doch eine Verbürgerlichung? Locher winkt ab. Anpassungen seien immer wieder nötig – nicht zuletzt wegen der exponierten Lage. Trotz allem brauche Bern die Reitschule auch heute noch. Sie sei der letzte Ort in der Stadt, an dem kein Konsumzwang herrsche. Wo Jugendliche sich unbehelligt aufhalten könnten. Wo der neoliberale Ausgrenzungsdruck noch nicht hinreiche. «Die Reitschule ist eine Oase in der Wüste der Ordnung.»

Die schwierigen Fragen nach dem Sinn der Reitschule im Hier und Jetzt sind sowieso erst einmal vom Tisch. Die Reihen haben sich geschlossen, Priorität geniesst nun der Kampf gegen Regierungsstatthalter Lerch. Mal ehrlich: Wer braucht schon einen guten Zweck, wenn er einen bösen Feind hat?

Am 2. Juni wird in Bern wieder demonstriert. Weit über 4000 Personen haben auf Facebook ihr Kommen angekündigt. Vielleicht haben sie ja recht. Es könnte ein heisser Sommer werden.


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Der Bund, 16. November 2012

 

«Es herrscht nicht mehr dieselbe Paranoia»


Von Regula Fuchs

 

Diesen Freitag jährt sich die Zaffaraya-Räumung zum 25. Mal. Mit dabei war Andreas Berger, der seit drei Dekaden die autonome Szene mit der Kamera begleitet. Nun arbeitet er an einem Film über die Reitschule – und schneidet dabei auch heikle Themen an.

 

Seit 30 Jahren dokumentieren Sie das bewegte Bern. Sind Sie sozusagen der eingebettete Journalist der linken Autonomen?
Könnte man sagen. Ich verstehe mich als Teil der Bewegung. Mit einem langen Unterbruch zwar, denn es gab Jahre, in denen ich mehr mit meinen Kindern auf dem Spielplatz anzutreffen war als in der Reitschule. Und 1996 hatte ich das Gefühl, ich sei zu alt für Demonstrationen, als ich mir im Gasnebel den Fuss verstauchte. Aber ich kehrte im richtigen Moment zurück. Die erste Demonstration, an der ich wieder filmte, war der SVP-Umzug am 6. Oktober 2007. Da wurde mir warm ums Herz, es war so wie früher.

 

Was hat Sie zum Neustart bewogen – Jahre nach «Berner beben»?
Es war zwar ein Neustart, aber gleichzeitig konnte ich an früher anknüpfen, als das Zaffaraya 20 Jahre nach der ersten Räumung umziehen musste – unter völlig anderen Vorzeichen natürlich: ohne Barrikaden und Gasnebel, sondern ganz geregelt mit Platzübergabe und Vertrag. Diese Entwicklung interessierte mich.

 

Die Jugendunruhen, Zaffaraya, das «AKW ade»-Camp – Ihre Filme sind auch Bilder einer Jugendbewegung. Wie hat sich diese verändert?
In gewissen Momenten erstaunlich wenig. Manch eine Reitschule-Vollversammlung bescherte mir Déjà-vus: Schon 1982 wurde diskutiert, ob man Journalisten an die Vollversammlung lassen soll. Eine Jugendbewegung – das sind gestern wie heute verschiedene Gruppierungen, die es besser oder schlechter miteinander können. Und es ist auch immer noch so, dass, sobald Druck von aussen kommt – etwa eine Anti-Reitschule-Initiative –, interne Differenzen wieder begraben werden.

 

Ihre Filme erzählen auch von einer gewachsenen Diskussionskultur zwischen Aktivisten und Polizei. Wer hat sich da mehr bewegt?
Alle haben sich bewegt. In der autonomen Szene gibt es zwar immer noch Fundis, die nicht mit den Behörden sprechen oder wählen gehen, aber auch ganz pragmatische Menschen. Sicher hat sich die Polizei verändert. Natürlich hat sie nicht immer Freude, wenn ich filme, aber heute hält mir niemand mehr die Hand vor die Kamera. Dennoch ist das Klima auf der Strasse mittlerweile wieder härter geworden als zu der Zeit, als ich «Zaffaraya 3.0» drehte. Damals war viel von Deeskalation die Rede.

 

Ein Merkmal Ihrer Filme ist, dass Sie im richtigen Moment am richtigen Ort sind. Wie machen Sie das?
Ich habe Leute, die mir sagen, wann wo was los ist. Und Grossereignisse wie «Tanz dich frei» werden ja vorher angekündigt. Mir sind allerdings die kleinen Aktionen fast lieber, wie letzthin die Pussy-Riot-Solidaritätsaktion vor dem Münster. Da bin ich näher am Geschehen, an den Beteiligten. Das ist der Unterschied zu früher, zu «Berner beben». Ich kann einzelne Leute an Demonstrationen und Aktionen zeigen.

 

Hat sich denn die Szene verändert?
Die ist mittlerweile offener. In den Achtzigern war vieles illegal. De jure war natürlich auch das AKW-Camp illegal, aber das hatte eine so breite Akzeptanz, dass sich die Aktivisten bereitwillig filmen liessen. Es herrscht nicht mehr dieselbe Paranoia wie einst.

 

Drehen Sie ohne Drehbuch?
Ja. Statt ein Drehbuch habe ich ein Oberthema, und dann suche ich einzelne Menschen, die mich durch die Geschichte führen. Manchmal ist es auch der Zufall, der mir Szenen zuspielt. Letzthin wollte ich nur rasch filmen, wie die Reitschule-Zeitung gefaltet wird – da sass ein alter Aktivist, der ins Erzählen kam, und ich drehte eine Stunde lang. Verglichen mit dem Super-8-Zeitalter, als man sich jeden Meter Film genau überlegte, kann ich die Kamera heute laufen lassen, und es kostet nichts. So lassen sich wunderbare Momente einfangen. Wie jener, als im AKW-Camp eine Aktivistin mitten in einer Aktion mit ihrem Vater telefoniert und sagt: «Ich bin an vorderster Front, aber es passiert schon nichts.»

 

Dafür häufen sich Materialberge. Zeugt das umfangreiche Bonusmaterial auf den DVDs davon?
Bei «Zaffaraya 3.0» hatte ich viel zu viel Material, denn es war mein erster Film, den ich digital drehte. So fielen Protagonisten oder Geschichten für die Filmfassung weg, die ich nun unbedingt integrieren wollte. Mittlerweile habe ich mehr Übung darin, viel Material auf die wichtigsten Motive herunterzuschneiden.

 

Stichwort Zaffaraya: Da werden heute Kinder gross, die Bewohner gehen einer geregelten Arbeit nach, jeder baut sich sein Häuschen. Ist das ein Prozess der Verbürgerlichung?
Es geht, wie auch bei mir selber, schon ein bisschen in diese Richtung. Das ist der Unterschied zu den Menschen in der Reitschule: Die wollen nicht nur eine Nische für sich selber, sondern haben Ansprüche, die weit über das Gebäude hinausgehen.

 

In Ihren Filmen gibt es kaum einordnende Kommentare. Warum formulieren Sie Ihre Haltung zum Gezeigten so diskret?
Ich will Leute und Bilder für sich sprechen lassen. Meine Haltung zeigt sich darin, dass ich bestimmte Menschen in bestimmten Situationen auf bestimmte Art zeige. Das sollte genügen. Aber auch die Gegenseite kommt zu Wort – zum Teil aus purer Neugier. Ich werde demnächst Bürgerliche zur Reitschule interviewen. Da interessiert mich weniger ihre offizielle Haltung, sondern wie sie sich als Jugendliche ausgetobt haben.

 

Worum wird es in «Welcome to Hell» genau gehen, dem Reitschule-Film?
Die Reitschule kam in jedem meiner Filme vor; ich fand, es sei jetzt Zeit, sie ins Zentrum zu rücken, um auch die heiklen, vorher tabuisierten Themen anzuschneiden – Gewalt, Dealen, Flaschenwürfe oder wie es um die Basisdemokratie steht. So hat man diesen Sommer auf dem Dach Vorrichtungen angebracht, um die Tauben loszuwerden. Da war lange nicht klar, ob das nun wirklich basisdemokratisch beschlossen worden war oder nicht. Die Veganer waren natürlich dagegen, aber bis jetzt hat es niemand auf sich genommen, die Dinger abzumontieren.

Theorie und Praxis sind auch in der Reitschule nicht eins.
Genau. Aber es gibt auch Momente, in denen eine selbstironische Note spürbar wird. Etwa, als die Moderatorin beim Tortenwettbewerb am Sous-le-Pont-Fest die Frage stellte, ob man da auch im Konsens entscheiden müsse. Da kam ein Ruf aus der Menge: «Vollversammlung!» Es heisst ja häufig, die Linken seien dogmatisch und völlig humorlos.


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